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Hörgeräte und ihr Stigma – wie werden wir es endlich los?

Das Älterwerden bringt zwangsläufig Veränderungen im Körper mit sich, und viele dieser Veränderungen sind normal und kein Grund zur Scham. Hüft- oder Knieprothesen, Osteoarthritis, Diabetes oder auch Hörverlust gehören schlichtweg dazu, wenn die Zeit ihren Einfluss auf den menschlichen Körper ausübt. Trotzdem möchten viele Menschen diese Veränderungen nicht wahrhaben. Die damit verbundenen Stigmata belasten zudem auch junge Menschen, die von solchen Einschränkungen betroffen sind. Wir brauchen also definitiv einen anderen Umgang mit Themen wie Schwerhörigkeit – aber wie?

Hörgeräte und ihr Stigma – wie werden wir es endlich los
links: Stakey Signature, Mitte: Phonak Infinio, rechts: Apple Airpods Pro 2.

Menschen gehen ungern offen mit vermeintlich altersbedingten Beeinträchtigungen um – sei es der Wunsch, Falten zu kaschieren, das Haar zu verdichten oder die Zähne gerade zu rücken. Der Grund ist oft die persönliche Vorstellung vom eigenen Erscheinungsbild. Wenn es um Hörverlust und Hörgeräte geht, wird dieser Wunsch jedoch oft missverstanden. Stimmen aus der Branche warnen: „Hörgeräte zu verstecken suggeriert, dass man sich dafür schämen sollte.“ Vielmehr sollte es jedoch darum gehen, selbstbestimmt über Lösungen zu entscheiden, die einem zusagen und den eigenen Bedürfnissen entsprechen.

Hörgeräte: Stigmatisiert und doch unverzichtbar

Die traurige Realität ist, dass Menschen, die von Hörgeräten profitieren könnten, diese oft nicht tragen. Die EuroTrak Studie von 2022 zeigt, dass in Deutschland nur etwa 41 Prozent der Menschen mit Hörverlust Hörgeräte tragen – und Deutschland gehört weltweit zu den Spitzenreitern, was die Versorgungsquote angeht. Hörgeräte können die soziale Interaktion fördern, die Kommunikation erleichtern, damit Ängste und Depressionen lindern sowie schwerwiegende Folgeerkrankungen verhindern. Trotzdem verzichten viele Menschen auf das Hilfsmittel – und zwar nicht aus finanziellen Gründen, sondern wegen der tief verankerten Stigmatisierung.

Diese beruht auf der Annahme, dass Hörgeräte Träger älter oder weniger kompetent erscheinen lassen. Dabei sind Hörgeräte nicht weniger wichtig als eine Brille, Kontaktlinsen oder Zahnspangen, die heutzutage selbstverständlich sind. Studien, darunter eine Umfrage in den USA, die von Forbes durchgeführt wurde, zeigen, dass rund 48 % der Befragten eine Stigmatisierung bei Hörgeräten wahrnehmen. Besonders bei jüngeren Menschen führt dies dazu, dass sie ihren Hörverlust eher verschweigen als ein sichtbares Hörgerät zu tragen. Man muss jedoch betonen, dass die Quote der versorgten Schwerhörigen in den USA mit etwa 10 Prozent deutlich geringer als die in Deutschland ist.

Der Einfluss von OTC-Hörgeräten auf den deutschen Markt

Seit 2022 gibt es in den USA auch OTC-Hörgeräte, also Hörhilfen, die ohne ärztliche Verschreibung erhältlich sind. Diese sind oft günstiger und leichter zugänglich, setzen jedoch keine umfassende audiologische Diagnostik voraus. Während OTC-Hörgeräte die Zugänglichkeit erhöhen, bleibt die Frage, ob sie für alle Patienten eine geeignete Lösung darstellen. Ein Hörverlust ist so individuell wie der Mensch selbst – und so sollte auch die Lösung individuell angepasst sein.

Um dies sicherzustellen, schlagen einige Experten eine verpflichtende Beratung durch Hörakustiker oder Audiologen vor dem Kauf eines OTC-Hörgeräts vor – nicht mit dem Ziel, den Menschen die rezeptfreien Hörsysteme auszureden, sondern die richtige Wahl zu erleichtern und eine informierte Entscheidung zu ermöglichen.

Zwar gibt es in Deutschland aufgrund der Leistungen der Krankenkassen scheinbar keine Notwendigkeit für rezeptfreie Hörsysteme. Doch allein die neuen Hörgerätefunktionen in Apples Airpods Pro regen zum Nachdenken an – wer entscheidet sich noch für ein traditionelles Hörgerät, wenn er stattdessen Bluetooth-Kopfhörer tragen kann, die von der Gesellschaft akzeptiert und zudem deutlich günstiger sind? Es ist also klar: Die traditionelle Hörgeräteversorgung muss sich weiterentwickeln.

Das Ass im Ärmel des Hörakustikers

Der Hörakustiker hat jedoch einen entscheidenden Vorteil: Er kann direkt und ganz individuell auf die Bedürfnisse und Ängste der schwerhörigen Menschen eingehen – das kann Apple nicht leisten. Eine offene und verständnisvolle Herangehensweise, die die Wünsche und Empfindlichkeiten der Patienten berücksichtigt, ist der Schlüssel, um Vorurteile gegenüber Hörgeräten abzubauen.

Viele Menschen möchten nicht, dass ein sichtbares Hörgerät deren persönliches Problem zur Schau stellt. Der Hörakustiker kann hier intervenieren, aufklären und bei der Entscheidung unterstützen – ganz gleich, ob es ihm gelingt, den Endkunden von den Vorteilen eines RIC-Hörsystems zu überzeugen oder es am Ende das kaum sichtbare CIC wird. Und dabei ist es wichtig, nicht die Augen vor alternativen Möglichkeiten zu verschließen – wer weiß, vielleicht sind in diesem einem spezifischen Fall wirklich die Airpods Pro die richtige Wahl?

Für jeden Menschen gibt es die ideale Lösung – wird das den Menschen bewusst, muss niemand mehr Angst vor einer Hörgeräteversorgung haben. Die Rolle des Hörakustikers als Begleiter in der persönlichen Entscheidungsfindung und als Ansprechpartner für ein solch intimes Thema wie Schwerhörigkeit, ist angesichts der zunehmenden Auswahl wichtiger denn je. Und das wird sich nicht ändern – weder durch KI noch durch OTC.