Dank unseres Krankenkassensystems muss kein Mensch in Deutschland selbst für ein Hörgerät bezahlen – abgesehen von 10 € Rezeptgebühr pro Ohr. Trotzdem entscheiden sich weniger als 50 Prozent der Menschen mit Hörverlust letztendlich für die Versorgung. Befürchtete Stigmatisierung spielt dabei selbstverständlich eine Rolle, aber es gibt einen weiteren wesentlichen Faktor: Sie unterschätzen ihre Hörprobleme. Was können Hörakustiker tun, um dem entgegenzuwirken?
Wahrnehmung versus Realität
Unsere Wahrnehmung ist unsere Realität: Wenn eine Person nicht daran glaubt, ein Hörproblem zu haben, obwohl Tests eindeutig einen Hörverlust zeigen, wird sie keine weiteren Maßnahmen einleiten. Umgekehrt gibt es Menschen mit normalem Gehör, die das Gefühl haben, schlecht zu hören. Beide Gruppen stellen für Hörakustiker eine Herausforderung dar.
Ein zentrales Ziel sollte es daher sein, die subjektive Wahrnehmung der Hörfähigkeit in die Diagnostik einzubeziehen. Klassische Tests wie der Oldenburger Satztest oder der Freiburger Sprachtest messen das Verständnis von Wörtern oder Sätzen unter verschiedenen Bedingungen objektiv. Eine weniger verbreitete, aber ebenso wertvolle Methode besteht darin, Personen zu bitten, ihre eigene Sprachverständlichkeit auf einer Skala von 0 bis 100 einzuschätzen. Diese subjektiven Ergebnisse können mit den objektiven Werten verglichen werden, um ein besseres Bild der Wahrnehmung zu erhalten.
Über- und Unterschätzer der Hörfähigkeit
Studien zeigen, dass Menschen mit Hörproblemen ihre Hörfähigkeit oft überschätzen (sogenannte „Überschätzer“). Sie glauben, besser zu hören, als es objektive Tests nahelegen. Dies führt dazu, dass sie weniger Probleme wahrnehmen und keine Notwendigkeit sehen, ein Hörgerät zu nutzen.
Im Gegensatz dazu gibt es Unterschätzer, die glauben, schlechter zu hören, als es ihre objektiven Testergebnisse zeigen. Diese Gruppe neigt dazu, mehr Hörprobleme anzugeben und ist oft unzufriedener mit Hörgeräten. Das Verständnis dieser Diskrepanz ist entscheidend, um eine angemessene Beratung und Versorgung zu gewährleisten.
Der OSID-Test: Eine neue Methode zur Diagnostik
Um die Lücke zwischen objektiver und subjektiver Wahrnehmung zu schließen, wurde der Objective-Subjective Intelligibility Difference (OSID)-Test entwickelt. Dieser Test nutzt kontextbezogene Sätze, um eine realitätsnahe Einschätzung der Hörfähigkeit zu ermöglichen und kombiniert dabei die objektive Messbarkeit mit der subjektiven Wahrnehmung.
Zunächst wiederholt die Testperson Sätze, die in einer geräuschvollen Umgebung abgespielt werden. Die korrekt wiedergegebenen Schlüsselwörter werden gezählt. Zusätzlich schätzt die Person nach jedem Satz auf einer Skala ein, wie gut sie den Inhalt verstanden hat.
Die Ergebnisse zeigen, ob eine Person ihre Hörfähigkeit überschätzt, unterschätzt oder genau richtig einschätzt. Interessanterweise zeigte der OSID-Test, dass Menschen mit Hörgeräten oft realistischer über ihre Hörfähigkeit urteilen als Menschen ohne Geräte.
Was können Hörakustiker tun?
Hörakustiker können in erster Linie Bewusstsein schaffen, zum Beispiel indem sie Menschen mit Hörverlust, die ihre Probleme nicht wahrnehmen, darüber informiert werden, was sie verpassen. Dies kann durch Gespräche mit Angehörigen, kostenlose Hörtests oder Aufklärung über die Verbindung zwischen Hörverlust und anderen Gesundheitsproblemen (z. B. kognitive Beeinträchtigungen) geschehen.
In Zuge der Ermittlung der Hörfähigkeit ist es darüber hinaus ratsam, subjektive und objektive Tests zu kombinieren, um die Wahrnehmung der Hörfähigkeit besser zu verstehen. Überschätzer können so darauf hingewiesen werden, was ihnen entgeht, während Unterschätzer lernen, ihre Fähigkeiten realistischer einzuschätzen.
Überschätzer können dann beispielsweise über die Risiken eines unbehandelten Hörverlusts aufgeklärt werden, unter Zuhilfenahme von Beispielen aus dem Alltag, die die Dringlichkeit verdeutlichen. Und Unterschätzer profitieren von einer einfühlsamen Beratung, die darauf abzielt, unrealistische Erwartungen zu korrigieren und Vertrauen in die Technologie zu gewinnen – hier können das Ausprobieren höherer Technologielevel sowie eine engmaschige Betreuung die richtigen Ansätze sein.
Nicht zuletzt sollten Hörakustiker den Erfolg sichtbar machen: Hörgeräteträger nehmen den Nutzen von Hörgeräten oft als geringer wahr als er tatsächlich ist – wenn Hörakustiker die objektiven Verbesserungen klar kommunizieren, kann das das Vertrauen der Endkunden in die Geräte stärken. Regelmäßige Nachtests können dabei helfen, Fortschritte zu verdeutlichen.
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