Die Grundlagenforschung zum Hören hat einen entscheidenden Fortschritt erzielt: Wissenschaftlern der Rockefeller University ist es gelungen, ein Stück einer Säugetier-Cochlea außerhalb des Körpers am Leben und funktionsfähig zu erhalten. Damit können erstmals die komplexen mechanischen und elektrischen Abläufe im Innenohr direkt beobachtet werden. Dieser Durchbruch eröffnet neue Perspektiven für das Verständnis von Hörverlust und mögliche Ansätze für zukünftige Therapien.

(Bildquelle: © Chris Taggart / Rockefeller University)
Durchbruch in der Hörforschung durch Nachbildung des natürlichen Umfelds der Cochlea
Die Cochlea ist ein hochspezialisiertes, spiralig gewundenes Organ des Innenohrs, geschützt vom dichtesten Knochen im menschlichen Körper. Für die Forschung war es bisher kaum möglich, ihre Arbeitsweise in Echtzeit zu untersuchen. Das Team um den 2025 verstorbenen Neurobiologen A. James Hudspeth entwickelte eine spezielle Zweikammer-Konstruktion, in der ein winziges Gewebestück kontinuierlich mit Flüssigkeiten versorgt wird, die den natürlichen Bedingungen im Innenohr entsprechen. Temperatur, elektrische Spannung und chemisches Milieu blieben dabei stabil.
So konnten die Forscher an einem 0,5 Millimeter großen Fragment einer Gerbil-Cochlea erstmals die mechanischen und elektrischen Reaktionen auf Schall messen. Hochauflösende optische Verfahren zeigten, dass das Gewebe als funktionelle Einheit vibrierte. Damit ließ sich die sogenannte „aktive Verstärkung“ direkt erfassen – jener Prozess, der schwache Töne hörbar macht, Frequenzen schärft und Lautstärken reguliert.
Neue Einblicke in die Hörmechanik: Aktive Prozesse im Innenohr verstehen
Die Experimente belegten, dass das isolierte Präparat die vier zentralen Merkmale des aktiven Prozesses aufwies: Verstärkung, Frequenzabstimmung, nichtlineare Kompression und die Erzeugung von Verzerrungsprodukten. Elektrische Messungen zeigten zudem ein charakteristisches mathematisches Muster, das bereits aus theoretischen Modellen bekannt war. Damit wurde nachgewiesen, dass ein universelles biophysikalisches Prinzip das Hören bei verschiedenen Tierarten – von Insekten bis zu Säugetieren – prägt.
Hudspeths Forschung, die sich über fünf Jahrzehnte erstreckte, hatte zuvor gezeigt, dass Haarzellen bei nicht-mammalischen Arten aktiv Bewegungen verstärken können. Die neuen Ergebnisse erweitern dieses Prinzip nun auf Säugetiere und lösen damit eine jahrzehntelange Kontroverse in der Hörforschung. Eine begleitende Studie beschreibt zudem die technischen Innovationen, die das Experiment ermöglichten, darunter präzisere Präparationstechniken, die Kontrolle von Kalziumkonzentrationen sowie ein Verfahren zur Regulierung des Drucks im Cochlea-Gewebe.

Bedeutung für Hörforschung und mögliche Therapien
Der große Vorteil dieser Methode liegt darin, dass das Gewebe außerhalb des Körpers über einen längeren Zeitraum funktionsfähig bleibt. Dadurch können Wissenschaftler erstmals gezielt untersuchen, wie Medikamente, genetische Veränderungen oder Umwelteinflüsse auf die Signalübertragung im Innenohr wirken. Langfristig könnte dies helfen, die Ursachen von sensorineuralem Hörverlust besser zu verstehen und mögliche Behandlungsansätze zu entwickeln.
Auch wenn klinische Anwendungen derzeit noch in weiter Ferne liegen, eröffnet die Forschung eine neue Plattform für die Untersuchung von Hörstörungen. Sie ermöglicht es, Prozesse zu analysieren, die bislang nur indirekt erfassbar waren. Für die Hörakustikbranche und die medizinische Forschung ergibt sich daraus ein neues Fundament, um Therapien, Regenerationstechniken oder zukünftige pharmakologische Ansätze zu entwickeln.
Die erfolgreiche Kultivierung einer Säugetier-Cochlea außerhalb des Körpers markiert womöglich einen Wendepunkt in der Hörforschung. Zum ersten Mal lassen sich die aktiven Prozesse des Innenohrs direkt beobachten und gezielt beeinflussen. Damit wird nicht nur ein lange bestehendes wissenschaftliches Rätsel gelöst, sondern auch eine Grundlage geschaffen, auf der künftige Entwicklungen im Bereich der Prävention und Behandlung von Hörverlust aufbauen könnten.
Quellen
Alonso, R., Gianoli, F., Fabella, B., Belenko, N., Magnasco, M., & Hudspeth, A. J. (2025). Amplification through local critical behavior in the mammalian cochlea. PNAS, 122(29), e2503389122. https://doi.org/10.1073/pnas.2503389122
Gianoli, F., Alonso, R., Fabella, B., Belenko, N., Magnasco, M., & Hudspeth, A. J. (2025). Toward an ex vivo preparation for studies of the cochlear active process in mammals. Hearing Research, 462, 109288. https://doi.org/10.1016/j.heares.2025.109288
Weitere Informationen: https://hearinghealthmatters.org/hearing-news-watch/2025/cochlea-alive-outside-body/









