Klingt fast zu gut, um wahr zu sein: Eine Künstliche Intelligenz, die mit nahezu absoluter Treffsicherheit voraussagt, ob ein Kind nach einer Chemotherapie mit Cisplatin einen Hörverlust erleiden wird? Genau das verspricht ein neu entwickeltes Machine-Learning-Tool aus den USA. Doch was steckt technisch und audiologisch wirklich dahinter? Was bedeutet das für die Praxis und wie realistisch ist der klinische Einsatz solcher Prognosetools wirklich? Wirft man einen genaueren Blick auf die Fakten, Potenziale und Fallstricke dieses Tools wird deutlich, weshalb dieses Thema Aufmerksamkeit verdient.

Die starke Nebenwirkung von Cisplatin
Cisplatin ist ein bewährtes, hocheffektives Medikament zur Behandlung von Krebs, das seit Jahrzehnten bei krebskranken Kindern eingesetzt wird, insbesondere bei Krebsarten wie Nieren- und Gehirntumoren. Seine Schattenseite: Es kann das Innenohr schädigen und so zu Hörverlust führen. Studien zufolge entwickeln 50 bis 80 % der mit Cisplatin behandelten Kinder eine mehr oder weniger ausgeprägte Innenohrschwerhörigkeit, oft beidseitig, dauerhaft und progressiv. Die Folgen reichen von Sprachentwicklungsstörungen über schulische Probleme bis hin zu psychosozialen Belastungen.
Bislang galt: Hörverlust lässt sich erst feststellen, wenn er bereits eingetreten ist. Vorbeugen ist kaum möglich. Genau hier setzt das neue KI-gestützte Tool an, das auf einem Machine-Learning-Verfahren basiert und auf Daten aus einer internationalen Untersuchungsgruppe zurückgreift. Mithilfe von medizinischen Informationen, genetischen Merkmalen und Behandlungsdaten berechnet es das persönliche Risiko für einen durch Cisplatin verursachten Hörverlust und das mit einer beeindruckenden Genauigkeit von 95 %.
So berechnet das KI-Modell individuelle Risiken
Das KI-gestützte Tool wurde im Rahmen einer Studie unter der Leitung des St. Jude Children’s Research Hospital entwickelt. Es arbeitet mit einer Kombination verschiedener Rechenmodelle, die gemeinsam besonders zuverlässige Vorhersagen ermöglichen, sogenannte Ensemble-Modelle. Auf dieser Basis kann das System schon vor Beginn der Krebsbehandlung ein individuelles Risikoprofil für Hörverlust erstellen. Liegt ein hohes Risiko vor, können entsprechende Maßnahmen frühzeitig ergriffen werden: Die betroffenen Kinder könnten dann engmaschiger audiologisch überwacht werden, wenn möglich mit alternativen Medikamenten behandelt oder vorsorglich durch sogenannte Otoprotektiva, Schutzstoffe für das Gehör, unterstützt werden.
KI-gestützte Früherkennung: Wichtig für Hörakustiker und HNO-Ärzte
Wenn Kinder mit vorhersehbarem Risiko frühzeitig identifiziert werden, verändert sich der Zeitpunkt des Eingreifens grundlegend: Statt erst zu reagieren, wenn der Schaden bereits entstanden ist, kann künftig möglicherweise präventiv gehandelt werden.
Das schafft echte Chancen. So lässt sich eine frühe Versorgung mit Hörgeräten gezielter planen und vorbereiten. Auch die Bedeutung audiologischer Frühdiagnostik steigt, besonders in der Zusammenarbeit mit Fachärzten für kindliche Krebserkrankungen und Hörstörungen. Zudem ergeben sich neue Möglichkeiten, Familien betroffener Kinder besser aufzuklären und über den gesamten Verlauf hinweg zu begleiten.
Gleichzeitig wird deutlich: Hörakustiker werden künftig immer häufiger mit KI-gestützter Diagnostik in Berührung kommen, selbst wenn sie diese Tools nicht direkt einsetzen.
Zwischen Hoffnung und Realität – der aktuelle Stand des Tools
So vielversprechend das Tool auch klingt – die klinische Praxis ist komplex. Die Vorhersagekraft ist hoch, bieten aber keine absolute Sicherheit. Da stellen sich auch ethische Fragen: Wie geht man mit einem hohen Risikowert um? Wie kommuniziert man das den Eltern? Es schafft in jedem Fall Bewusstsein und überhaupt erst einmal die Möglichkeit, sich frühzeitig mit dem Thema Hörminderungen auseinanderzusetzen.
Und nicht zuletzt ist das Tool bislang kein offiziell zugelassenes Medizinprodukt, sondern ein Forschungsergebnis, welches sich noch in einem frühen Stadium befindet. Bis es flächendeckend im klinischen Alltag ankommt, gerade in Europa, wird es wahrscheinlich noch einige Zeit dauern.
Die KI-gestützte Vorhersage von Hörverlust durch Cisplatin ist ein bedeutender Fortschritt. Sie verändert zwar nicht alles sofort, aber sie zeigt, was möglich wird, wenn Technik, Medizin und Hörakustik eng zusammenarbeiten.
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