Psychologische Perspektiven gewinnen in der Tinnitusforschung an Bedeutung: Tinnitus wird zunehmend als mögliche akute Stressreaktion betrachtet, die Symptome ähnlich einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) hervorrufen kann. Für Hörakustiker ergeben sich daraus neue Ansätze in der Beratung und Versorgung chronisch betroffener Patienten.

Nachdem wir bereits berichtet haben, inwiefern Stress mit Tinnitus korreliert, wie sich Tinnitus möglicherweise durch Gesichts- und Augenbewegungen erkennen lässt und welche aktuellen Therapieansätze erforscht werden, folgen nun neue Erkenntnisse: Im Zentrum der Überlegungen steht das subjektive Gefühl von Hilflosigkeit, das viele Tinnitusbetroffene nach dem erstmaligen Auftreten der Ohrgeräusche erleben. Diese Empfindung kann vergleichbar sein mit dem Verlust von Kontrolle in belastenden oder traumatischen Situationen. Der Tinnitus wird nicht nur als akustisches Symptom wahrgenommen, sondern als Auslöser für eine starke emotionale Reaktion – oft begleitet von Angst, Unsicherheit und anhaltendem Stress.
Der aktuelle Beitrag von Healthy Hearing zeigt diesbezüglich auf, dass das Erleben des Tinnitus eng mit kognitiven Bewertungen verknüpft ist. Insbesondere dann, wenn das Geräusch als bedrohlich interpretiert wird, verstärken sich oft auch die psychischen Reaktionen. Dieser Prozess kann sich zu einem chronischen Zustand entwickeln, bei dem die Wahrnehmung des Tinnitus zunehmend mit negativen Gefühlen und hoher innerer Anspannung verbunden ist.
Tinnitus und PTBS: Kontrollverlust als Auslöser psychischer Belastung
Für die tägliche Arbeit in der Hörakustik bedeutet dieser Forschungsansatz eine Erweiterung der Sichtweise auf Tinnitus. Auch wenn das akustische Phänomen in vielen Fällen auf eine Schädigung des Innenohrs zurückzuführen ist, wird deutlich, dass die subjektive Belastung stark von der psychischen Verarbeitung beeinflusst wird. Die Erkenntnisse regen dazu an, bei der Beratung von Tinnitusbetroffenen auch psychosoziale Aspekte stärker zu berücksichtigen.
Insbesondere in der Tinnitusversorgung – etwa im Rahmen von Hörsystemanpassungen mit Rauschgeneratoren oder begleitenden Beratungsangeboten – kann dieses Verständnis hilfreich sein. Hörakustiker, die auf Tinnitusversorgung spezialisiert sind, könnten Betroffene gezielter unterstützen, etwa durch Informationsgespräche zur Stressverarbeitung oder durch die Empfehlung interdisziplinärer Unterstützung, wenn psychische Belastungen im Vordergrund stehen.
Die Einordnung von Tinnitus als mögliche akute Stressreaktion stellt keine Diagnoseveränderung dar, sondern ergänzt das bestehende Verständnis um einen wichtigen psychologischen Aspekt. Für die hörakustische Praxis ergeben sich daraus keine unmittelbaren strukturellen Änderungen – wohl aber eine erweiterte Grundlage für Gespräche mit Betroffenen und eine differenzierte Einschätzung individueller Belastungslagen.
Langfristig könnte dieser Ansatz auch Impulse für interdisziplinäre Kooperationen mit psychologischen Fachbereichen geben, um Tinnitusbetroffene ganzheitlich zu begleiten. Die Forschung in diesem Bereich steht noch am Anfang, doch die Verbindung zwischen Tinnitus, Stress und Verarbeitungserleben bleibt ein zentrales Thema – auch im hörakustischen Versorgungskontext.
Passend zum Thema unser Artikel zum nachlesen: Wie ein positives Mindset Tinnitus und Hyperakusis beeinflussen kann – 5 Tipps: Konkrete Übungen bei Tinnitus und Hyperakusis – So trainieren Sie Ihr Gehirn aktiv um
Quelle: Glenn Schweitzer (2025): “How tinnitus can cause or exacerbate PTSD – Powerlessness plays a role, but it can be overcome” [Healthy Hearing Artikel vom 2.6.2025]
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