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80/80-Regel in Kritik: Studie sieht Zusammenhang zwischen Tinnitus und überreizten Neuronen

Eine aktuelle Studie von Royce E. Clifford et al. hat neue Erkenntnisse über die genetischen Ursachen von Tinnitus geliefert. Die internationale Studie mit über einer halben Million Teilnehmern bestätigt nicht nur bestehende Theorien zur möglichen Entstehung von Tinnitus, sondern eröffnet auch neue Wege zur Erforschung der Genetik von Hörverlust und Tinnitus und kann die Grundlage für künftige therapeutische Behandlungen bieten.

80-80-Regel in Kritik Studie sieht Zusammenhang zwischen Tinnitus und überreizten Neuronen

Hintergrund: 80/80-Regel

Motivation für die Durchführung dieser Studie war die bekannte 80/80-Regel in der klinischen Audiologie, welche nicht wissenschaftlich bestätigt ist. Sie besagt, dass etwa 80 Prozent aller Menschen mit Hörverlust einen Tinnitus haben und etwa 80 Prozent mit Tinnitus einen Hörverlust haben. Obwohl bekannt ist, dass ein Zusammenhang zwischen Hörverlust und Tinnitus besteht, weiß man bisher wenig über die genauen Ursachen oder die Korrelation.

Die neue Studie, die 2024 in Nature Communications veröffentlicht wurde, führte eine genomweite Assoziationsstudie (GWAS) mit 596.905 Teilnehmern durch. Das Ziel: die genetischen Grundlagen von Tinnitus zu untersuchen. Dabei wurde eine mittlere zweistellige Zahl neuer Loci (lat. von locus – Ort), also tatsächlicher Positionen eines Gens in einem Chromosom, identifiziert, die mit Tinnitus in Verbindung stehen. Heißt: Man kann nun besser verorten, wo die wahrscheinliche Ursache eines Tinnitus liegt.

Überreizte Neuronen als wahrscheinliche Ursache eines Tinnitus

Die Studie ergab, dass mehrere Gene mit den Verbindungen zwischen den Nervenzellen in Zusammenhang stehen, über welche elektrische Signale weitergeleitet werden. Dies bestätigt die Theorie des Versteckten Hörverlusts, bei dem nicht nur die Haarzellen in der Cochlea (dem Hauptgehörorgan), sondern auch die Verbindungen zwischen den Nervenzellen eine wichtige Rolle spielen.

Ein Gen namens GRK6, das die GABA-Rezeptoren steuert könnte eine Schlüsselrolle bei der Entstehung des Tinnitus sein. GABA wirkt wie ein Bremspedal für die Nervenzellen und verhindert, dass sie zu aktiv werden. Wenn die GABA-Aktivität sinkt, können die Nervenzellen überreizt werden. Die Überreizung führt also möglicherweise dazu, dass Tinnitus entsteht.

Studie ebnet den Weg für eine bessere Arzneimittelforschung

Die Forschungsergebnisse können dazu beitragen, dass die künftige Arzneimittelforschung besser auf die Ursachen von Tinnitus ausgerichtet werden können, insbesondere durch die gezielte Verstärkung von GABA-Rezeptoren. Zudem legt die Studie nahe, dass Dopaminrezeptoren, die ebenfalls von GRK6-Gen gesteuert werden, neue therapeutische Ansätze bieten könnten. Eine gezielte Steuerung der Dopaminrezeptoren könnte dazu beitragen, Tinnitussymptome zu lindern oder womöglich gar zu beseitigen.

Abgrenzung von Tinnitus und Hörverlust

Obwohl Tinnitus häufig mit einem Hörverlust einhergeht, daher auch das 80/80-Axiom, zeigen die genetischen Analysen der Studie, dass es klare Unterschiede im genetischen Ursprung beider Erkrankungen gibt. Bei einem Tinnitus scheinen deutlich mehr Gene beteiligt zu sein. Zudem sind diese auch schwerer zu identifizieren. Bei einem Hörverlust sind die Ursachen eher lokal in der Cochlea oder im auditorischen Kortex zu verorten.

Eine weitere Abgrenzung zeigten die genetischen Ursachen der einzelnen Erkrankungen auf. Die Studie ergab, dass nur 200 von 4.100 genetischen Varianten (SNPs), die mit Hörverlust in Verbindung gebracht werden, einzigartig für einen Hörverlust sind. Wohingegen 5.600 von 9.500 SNPs ausschließlich mit Tinnitus verbunden sind. Dies unterstreicht noch einmal, dass Tinnitus in einem breiteren Netzwerk im Gehirn verankert ist, während Hörverlust stärker mit spezifischen Bereichen im Gehörsystem zusammenhängt.

Zusammenhänge zwischen Tinnitus und weiteren gesundheitlichen Merkmalen

Die Studie untersuchte außerdem die Zusammenhänge zwischen Tinnitus und psychiatrischen sowie gesundheitsbezogenen Merkmalen und zeigte teils signifikante Verknüpfungen mit selbstberichteten Hörverlust, Sprachverständnis, Schmerzsyndromen, Wohlbefinden und internalisierenden Störungen auf.

Die Studie kommt also zu dem Ergebnis, dass Tinnitus eine eigenständige Störung ist, die sich von Hörproblemen im Allgemeinen unterscheidet. Schließlich korreliert Tinnitus nicht nur mit Hörverlust, sondern auch mit einem Spektrum psychiatrischer Störungen, was potenzielle neue Behandlungsansätze bietet. Der Autor der Studie, Dr. Royce Clifford, macht aber klar, dass weitere Forschung nötig ist, da die Ergebnisse hauptsächlich auf Computermodellen beruhen.

Quelle:
https://www.nature.com/articles/s41467-024-44842-x?utm_source=hearingtracker.com

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