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Durchbruch: Medikament stoppt Hörverlust

Wissenschaftler der University of California San Francisco (USCF) haben ein sogenanntes Taubheits-Gen entdeckt – und zugleich eine Lösung parat: Mit dem an der USCF entwickelten Medikament ISRIC wurde bei Mäusen mit Mutationen in diesem Gen erfolgreich das Absterben der Haarzellen gestoppt. Doch mehr noch: Es zeigte sich, dass nicht nur Tiere mit dieser Genmutation vor dem Hörverlust bewahrt werden konnten – sondern auch Tiere, die Lärm ausgesetzt wurden. Diese Entdeckung könnte den Grundstein für eine völlig neue Art der Prävention von Schwerhörigkeit legen.

Hörverlust-Gen entdeckt: Deshalb sterben die Haarzellen ab
Wissenschaftlern der University of California San Francisco ist möglicherweise ein Durchbruch bei der Prävention von Schwerhörigkeit gelungen.

Für diese Entdeckung, die am 22. Dezember im Journal of Clinical Investigation Insight veröffentlicht wurde, zeichnen sich zwei Wissenschaftler der USCF verantwortlich: Dr. med. PhD. Dylan Chan ist Leiter des Children’s Communication Centers (CCC) des UCSF Departments of Otolaryngology und Dr. med. PhD. Elliot Sheer ist Direktor des UCSF Brain Development Research Programs.

UPR leitet Selbstzerstörung der Haarzellen ein

Die beiden haben herausgefunden, dass ein molekularer Mechanismus namens Unfolded Protein Response (UPR) die Selbstzerstörung der Haarzellen im Innenohr anstoßen kann. Die UPR ist eigentlich ein Schutzmechanismus der Zelle, der dazu dient, fehlerhaft produzierte Proteine zu korrigieren – und damit zu gewährleisten, dass die Zelle weiterhin ordnungsgemäß funktioniert. Stellt die UPR jedoch fest, dass der Stress innerhalb der Zelle und damit die Probleme mit der Proteinfaltung zu groß sind, wird ein anderer Modus eingeleitet: Die Zelle zerstört sich selbst, um zu verhindern, dass sie weiteren Schaden anrichtet.

Auf die Haarzellen in der Cochlea übersetzt: wenn die UPR dort unlösbare Fehler in der Proteinfaltung erkennt, leitet sie die Selbstzerstörung ein. Und dies passiert nicht nur bei Mutationen auf dem Taubheits-Gen TMTC4, sondern auch dann, wenn zum Beispiel die Lärmeinwirkung auf die Haarzellen zu groß ist, oder auch bei der Einnahme bestimmter Krebsmedikamente wie Cisplatin. Der Weg zu dieser Erkenntnis glich jedoch – wie so oft in der Wissenschaft – einem Irrgarten.

Versuche mit mutierten Mäusen

2014 war das Ziel nämlich eigentlich ein ganz anderes: Dr. med. PhD. Elliot Sheer vermutete, dass Mutationen in einem Gen namens TMTC4 verantwortlich für die Gehirnfehlbildung einiger seiner Kinderpatienten war. Da Laboruntersuchungen des Gens zu keinem Ergebnis führten, startete man Tierversuche.

Es wurde erwartet, dass die Mäuse mit Mutationen im TMTC4-Gen schon früh schwere Hirnschäden aufwiesen, genau wie die pädiatrischen Patienten – überraschenderweise entwickelten sich die Tiere jedoch zunächst normal. Mit der Zeit aber fiel auf, dass sie nicht auf laute Geräusche reagierten. Als sie ausgewachsen waren, waren sie taub.

UPR-Medikament stoppt den Tod der Haarzellen

Elliot Sherr konsultierte seinen späteren Co-Autoren Dr. med. PhD. Dylan Cha, ein Innenohr-Experte, um dem auf den Grund zu gehen. Sie fanden heraus, dass die Mutationen im TMTC4-Gen die Innenohr-Haarzellen dazu brachten, sich selbst zu zerstören – und laute Geräusche bewirkten dasselbe: In beiden Fällen wurden die Haarzellen mit überschüssigem Kalzium geflutet, was das Gleichgewicht zellulärer Signale  durcheinanderbrachte – einschließlich der UPR.

Schließlich starteten sie einen Versuch: Das Medikament ISRIC wurde eigentlich dafür entwickelt, den Selbstzerstörungsmechanismus der UPR bei Schädel-Hirn-Traumata zu stoppen – und tatsächlich: Es verhinderte ebenfalls, dass Tiere, die Lärm ausgesetzt waren, taub wurden.

Weitere Erforschung des Taubheit-Gens

Diese Ergebnisse aus dem Jahr 2018 brachten 2020 schließlich südkoreanische Wissenschaftler unter der Leitung von Dr. med. PhD. Bong Jik Kim mit eigenen Untersuchungen in Verbindung: Die genetischen Mutationen zweier Geschwister, die mit Mitte 20 ihr Gehör verloren hatten, befanden sich ebenfalls im TMTC4-Gen. Zudem stimmten sie mit den Beobachtungen von Chan und Sherr überein, die sie bei den Mäusen machten. Also versendete man Zellproben nach San Francisco, wo man sie anschließend auf UPR-Aktivitäten überprüfte. Der Verdacht bestätigte sich: Diese Variante der Mutationen aktivierten die Selbstzerstörung in den Haarzellen der Patienten. Man hatte das TMTC4-Gen somit nicht nur bei Mäusen als „Taubheits-Gen“ identifiziert, sondern auch bei Menschen.

Schwerhörigkeit heilen

Gemeinsam mit dem Medikament, welches das Biotechnologieunternehmen Frequency Therapeutics aktuell entwickelt – es soll Haarzellen neu entstehen lassen können – könnten irgendwann vollumfängliche Therapien für die Erhaltung und Wiederherstellung des Hörvermögens angeboten werden, die nicht auf Hilfsmitteln wie Hörgeräten oder Cochlea-Implantaten aufbauen. Die Pille gegen Schwerhörigkeit scheint zum Greifen nah.